"Ist das eigentlich normal?"

„Ist das eigentlich normal?“
Fachtag zu sexuellen Übergriffen unter Kindern erkennen und verhindern.

„Ist das eigentlich normal?“ unter diesem Motto stand der Fachtag des Fachbereiches Kinder und Jugend im Zentrum Bildung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.

Mitarbeitende aus dem Gemeindepädagogischen Dienst und Studierende der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt kamen am 18. November 2011 nach Darmstadt, um mehr darüber zu erfahren, wie sexuelle Übergriffe unter Kindern erkannt und verhindert werden können.

Der Fachtag begann mit einem Tagesimpuls, einer Begrüßung und einer Vorstellung.

Maria van Os, Diplom-Pädagogin aus Berlin von Strohhalm e.V., der Fachstelle zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen führte in die Thematik ein. Sie stellte dar, dass „sexuelle Aktivitäten oder Übergriffe unter Kindern“ eine professionelle Herausforderung in allen Einrichtungen sind, in denen Kinder sich treffen bzw. lernen oder betreut werden.

Sie definierte „sexuelle Übergriffe unter Kindern“. Ein sexueller Übergriff unter Kindern liegt dann vor, wenn sexuelle Handlungen durch das übergriffige Kind erzwungen werden, bzw. das betroffene Kind sie unfreiwillig duldet oder sich unfreiwillig daran beteiligt. Häufig wird dabei ein Machtgefälle von einem übergriffigem Kind ausgenutzt, in dem z.B. durch Versprechungen, Anerkennung, Drohung oder körperliche Gewalt Druck ausgeübt wird. Wenn ein sexueller Übergriff unter Kindern passiert, ist es wichtig zu wissen, dass Eltern betroffener und übergriffiger Kinder Erwartungen an die Fachpersonen haben. Diese Erwartungen zu kennen, zu verstehen und nachvollziehen zu können bedeutet nicht, sie alle erfüllen zu können. Es muss eine Unterscheidung von berechtigten und unberechtigten Erwartungen auf der Grundlage von fachlichen Kriterien erfolgen, so die Referentin. 

Sie konstatierte, dass kindliche Sexualität sich unterscheidet von Erwachsenensexualität, die anfangs keine Scham kennt, egozentrisch ist und der Erkundung des Körpers dient, nicht auf genitale Sexualität festgelegt ist und sich auf den ganzen Körper bezieht. Sexuell aktive Kinder konzentrieren sich nicht auf sexuelle Höhepunkte, sie streben keinen Geschlechtsverkehr an und sie sind meist nicht ineinander verliebt. Maßnahmen müssen in jedem Fall getroffen werden, sie sollen dem Schutz betroffener Kinder dienen und zielen auf Verhaltensänderung durch Einsicht und Einschränkungen ab. Sie schränken das übergriffige Kind ein und nicht das Betroffene. Sie werden befristet, damit sich die Verhaltensänderung auch lohnt. Sie müssen konsequent durchgeführt und kontrolliert werden. Die Beziehungsebene ist dabei sehr wichtig. Die Maßnahmen brauchen eine Kommunikation und den Konsens z.B. im Team bzw. mit der Leitung. Die Maßnahmen sollen die Würde des übergriffigen Kindes wahren. Sie müssen geeignet sein, dem übergriffigen Kind den Ernst der Lage deutlich zu machen, die Maßnahmen werden von PädagInnen entschieden, nicht von Eltern oder betroffenen Kindern. Sie sollen eine präventive Wirkung auf die gesamte Kindergruppe haben. Laut Frau van Os sind Schlüsselfragen für die Einschätzung von sexuellen Handlungen unter Kindern:

• Nutzt ein Kind seine Überlegenheit aus?
• Wird auf ein Kind Druck ausgeübt, so dass man nicht mehr von Freiwilligkeit sprechen kann?
• Ist die Handlung ein Vorgang, der aus der Sexualität Erwachsener stammt? 
• Wird die Sexualität für nicht-sexuelle Zwecke benutzt?
• Was lernt das Kind bzw. die Kinder dabei? Wäre es ihnen lieber, dass dem Kind diese Lehre erspart bliebe?

Die Pädagogin erklärte, was betroffene Kinder benötigen: Trost, Verständnis, Mitgefühl, die Erfahrung, dass es sich lohnt, Hilfe zu holen, Lob, dass es sich anvertraut hat, die Würdigung seiner Abwehr, ausdrückliche Bestätigung, dass es keine Schuld hat, Bestätigung seines Gefühls, seiner Einschätzung, Zusicherung für seinen Schutz zu sorgen und Wiederholungen zu unterbinden, Zusicherung, dass man mit dem übergriffigen Kind sprechen wird und Respekt vor seinem Schamgefühl. 

Die Teilnehmerinnen erarbeiteten sich ihr Wissen, indem sie zu verschiedenen Fällen sich positionierten. Die Frage war jeweils „Handelt es sich um einen sexuellen Übergriff oder um eine sexuelle Aktivität?“. Daran schlossen sich verschiedene Rollenspiele an, wie PädagogInnen mit übergriffigen Kindern und betroffenen Kindern arbeiten können. Zum Ende gab es Literaturempfehlungen für sozialpädagogische und präventive Literatur für Kinder (Kinderbücher) und Fachliteratur. Die Teilnehmenden verließen die Tagung mit vielen neuen Anregungen und einem ansprechenden Handout.

Simone Reinisch, 23.11.2011